Erfahrungsbericht einer Hochsensiblen:
Was meine Schulzeit mit und aus mir machte und welches Glück meine Tochter heute hat
Mir wurde in der Schule vermittelt. Ich bin falsch…
Dicke rote Striche und Punkte verunstalten mein Deutsch-Heft. Der Linksschwung meiner Schrift passt nicht in das Bild meiner Grundschullehrerin. Lass deine Buchstaben gefälligst nach rechts schwingen. So ist es richtig. So hast du es zu lernen. Linksschwung ausgeschlossen. Ich bin sieben Jahre alt und völlig entsetzt darüber, was die Lehrerin mit meinem Diktat gemacht hat. Schlimmer noch ich fühle mich völlig falsch. Dieses Bild, als eines der wenigen, hat sich mir eingebrannt – bis heute. Ein anders noch. Der heftige, laute Knall eines schnell auf den Tisch schlagenden Zeigestocks. Auf das Pult ebenso, wie auf die Schulbänke unserer Klasse. Jedes mal durchzuckt es mich, wie der Blitz. Ich erschrecke zu Tode. Bekomme Angst. Was ich damals fühlte, kann ich nur erahnen bzw. fühle ich es eigentlich ganz genau, wenn ich in mich gehe, mich in meine Schulzeit zurückversetze und hineinspüre in das, was damals war.
Den Rest habe ich verdrängt
Konkrete Erinnerungen an meine Schulzeit habe ich aber kaum. Wusste doch meine damals beste Freundin stets eine lustige Geschichte aus der Schule zu erzählen, selbst als wir schon junge Frauen waren, staunte ich immer nur, was sie noch so alles wusste. Unzählige kleine Details, vom Ausflug hier, vom Klassenkasper da, von den Pausen und den vielen Geschehnissen während des Unterrichts. Ich hingegen habe fast alles verdrängt. Einzig ein Wanderausflug ist mir als positive Erinnerung geblieben. Der Rest sind die Schreckensbilder, wie oben beschrieben. Weshalb ich das meiste aus meinem Gedächtnis gelöscht habe, ist in der Psychologie kein Geheimnis. Es handelt sich um eine Schutzreaktion der kleinen Kinderseele, um überhaupt irgendwie weiter zu existieren. Noch heute als erwachsene Frau kann ich fühlen, was ich damals gefühlt habe. Spüre ich die Ablehnung meines Wesens, kann ich nachvollziehen, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes verbogen worden bin.
Rechts rum, wie alle. Nicht links rum, so wie ich eigentlich sein wollte
Wie traurig! Noch heute könnte ich heulen, gleichwohl ich nun gefestigt bin. Ich habe mir meine Einzigartigkeit zurückgeholt. Es war ein langer Weg und auch nicht immer einfach. Klar. Aber letztlich habe ich mich wieder gefunden. Auch durch das Schreiben übrigens. Mein erster Gedichtband war ein seelischer Befreiungsschlag für mich. Jetzt schreibe ich wieder. So, wie ich es mag. Und Basta! Aber nicht nur wegen meines eigenen Schicksals bin ich nach wie vor betroffen, sondern auch deshalb, weil ich weiß, dass es Etlichen genau so erging wie mir und es bis heute noch Etlichen so ergeht.
Das Rasenmäher-Prinzip: Oder wie Kinder, die von der Norm abweichen, zum Problemfall gemacht werden
Jedes Kind hat zu einer bestimmten Zeit, eine bestimmte Sache, auf eine vorbestimmte Art und Weise zu erlernen. So wünscht es sich der Staat, der Lehrplan, die Lehrer oder auch die Eltern. Für alles gibt es Maßstäbe, Messlatten und Bewertungssysteme. Und wer da nicht rein passt, der hat Pech gehabt. Leider beginnt das auch nicht erst mit der Schule, sondern schon bei Säuglingen. Wenn das Kleinkind nicht mit einem Jahr läuft werden die lieben Eltern schon leicht nervös. „Was, wenn das mit 15 Monaten noch immer der Fall ist?“ Dann ist das Drama perfekt. Ärzte werden konsultiert und es muss herausgefunden werden, was mit dem Kleinen nicht in Ordnung ist. Im Kindergarten ist es ähnlich. Wilde, umtriebige Jungs werden zum Stillsitzen ermahnt und bei besonders schüchternen sensiblen Naturen versucht die liebe Erzieherin genau das Gegenteil. „Dieser häufige Rückzug kann doch nicht normal sein. Das Kind muss sich doch in die Gruppe integrieren.“ Das alles nennt sich dann das Erlernen sozialer Kompetenzen. Ich stelle mir mittlerweile oft die Frage nach eben diesen Kompetenzen und dem Einfühlungsvermögen der Begleitenden selbst.
Für Individualität ist an unseren Schulen wenig Platz
Ich bin mit meinen Erfahrungen keine Ausnahme. Bestimmt war es für ein hochsensibles Kind – wie mich – besonders schlimm. Sicher gibt es Kids, die das alles lockerer wegstecken oder gar gerne in die Schule gehen. Doch das Prinzip ist und bleibt dasselbe. Für Individualität ist an den meisten Schulen wenig Platz. Ich war eine gute Schülerin, still, unauffällig und gelehrsam. Ich eignete mir das vorgegebene Wissen an, schrieb gute Noten, hatte super Zeugnisse vorzuweisen und bestand auch meine Ausbildung als Erzieherin mit Bravour. Doch eins fiel immer auf. Alexandra war still und zerbrechlich. Von dem lebendigen, fröhlichen, mutigen und selbstbewussten Mädchen, das ich einmal war, war nicht mehr viel zu spüren und zu sehen. Zumindest nicht in der Schule. Zu Hause schon eher. Vor allem aber während des Spielens mit meinen Freunden. Das war das größte Glück für mich. Draußen sein und spielen, spielen, spielen. Mutter sein, oder Pfarrer oder Eskimo. Alles war möglich. Ich war frei und gelöst. Je älter ich wurde, desto mehr ging meine Unbeschwertheit verloren. Und die unbewusst daher gesagte Prophezeiung meines Vaters, dass mit Schuleintritt der Ernst des Lebens beginnt, bewahrheitete sich leider auch. Auch das hatte ich also super gelernt. Ich bin nie gerne in die Schule gegangen. Nie. Ferien waren toll. Doch wenn sie sich dem Ende neigten, hatte ich jedes Mal Angst.
Meine sensible Seele verkraftete das „harte Leben“ nicht
Die Rebellin in mir rebellierte schon früh. Leider vergeblich. Die Angst blieb, keiner verstand mich, meine Eltern waren mit dem Sensibelchen meist überfordert und so lernte ich auch: Mit dir stimmt etwas nicht Alexandra. Du bist komisch und nicht normal. Mit diesem mir damals noch unbewussten Muster schlug ich mich dann irgendwie doch durch. Allerdings die Freude am Leben hatte ich verloren. Ich hatte Angst vor allem Möglichen. Auch vor Arbeit, auch vor Partnerschaft. Arbeitslosigkeit wechselte sich ab mit kleinen Jobs in unterschiedlichen Bereichen und festen Anstellungen als Erzieherin, die mich aber nicht erfüllten. Es war stets ein Muss und keine Lust.
Ich gründete eine eigene Familie
Ein fester Partner kam dann irgendwann doch auch noch. Und mit ihm nach drei Monaten auch gleich eine Schwangerschaft und nach weiteren neun Monaten unsere Tochter. Ich war zwar irre happy, dass dieses kleine Wesen den Weg zu mir gefunden hatte, aber auch hier blieben meine Ängste, dem Leben gerecht werden zu können. Doch siehe da, ich konnte es. Meine Tochter war ein Geschenk für mich. Ich wurde gezwungen das Leben zu leben. Ich musste mich um mein Kind kümmern. Es war abhängig von mir. Und wisst ihr was, ich tat es so gerne. Ich verschenkte meine Liebe in Hülle und Fülle an dieses kleine Wesen. Ich war glücklich.
Eins war klar:
Unter keinen Umständen eine normale Schule. Meine Tochter gab ich in den Waldorfkindergarten und später in die Waldorfschule
Und als es nach fünf Jahren um die Frage ging, welche Schule meine Tochter besuchen sollte, stand eins für mich fest. Unter keinen Umständen eine Staatsschule. Da ich zum damaligen Zeitpunkt in einer Waldorf-Spielgruppe arbeitete und mir die ganzheitliche Sichtweise auf das Kind und die warme Atmosphäre dort so gut gefiel und meine Tochter auch den Waldorfkindergarten besuchte, entschied ich mich für die Waldorfschule. Meine Tochter ist wie ich – hochsensibel. Trotz der großen Klassen von ca. 30 Kindern fühlt sie sich dort sehr wohl. Besonders die musischen Fächer, die an Waldorfschulen einen ebenso großen Stellenwert besitzen wie die anderen Fächer und die somit auch einen tollen Ausgleich für die Kinder bieten, sprechen mein hochsensibles Mädchen natürlich sehr an. Zeichnen mit Aquarell-Farben, Wachs- und Buntstiften, jeden Tag singen und musizieren, tanzen, Eurythmie, Sprachgestaltung und Theater spielen. Welch ein Glück. Was für eine Wohltat für Körper, Geist und Seele. Die Kinder dürfen bei sich sein, ihre Lebensfreude ausdrücken und mit der Gemeinschaft teilen. Bewusst wird das Tempo allgemein etwas heruntergefahren. Die Natur und ihre Jahreszeiten beobachtet und erforscht und für Leib und Seele erfahrbar gemacht. So beispielsweise beim Ackerbau oder während der Hausbau-Epoche. Ja, doch, auch hier lernen die Kinder Lesen und Schreiben. Aber eben etwas langsamer und auf andere Art und Weise.
Hinter die Symptome von verhaltensauffälligen Kindern schauen
Hennig Köhler, Heilpädagoge und Buchautor (I love him J), hat darüber viel geschrieben und referiert. Er leitet das Janusz-Korczak-Institut in Nürtingen und berät besorgte Eltern und viele, viele Kinder, die als nicht normal gelten, denen ADHS und Co. als Hirnstoffwechselstörung oftmals vorschnell diagnostiziert wurde oder die durch ihr Verhalten einfach nur negativ auffallen. Ich habe den Eindruck, dass bei Herrn Köhler und seinem Team ein jedes Kind in seiner Einzigartigkeit voll und ganz erkannt und angenommen wird. Hier wird den wahren Ursachen des kindlichen Verhaltens mit viel Zeit und Einfühlungsvermögen auf den Grund gegangen. Es wird nach individuellen Lösungen gesucht, die das komplette Umfeld des Einzelnen auch bewusst miteinbeziehen.
Die Frage dort lautet also nicht:
Wie bekommen wir das Kind schnellstmöglich ruhig gestellt und angepasst? Sondern: Was braucht das Kind wirklich, um wieder heil zu werden?
Das berührt mich zutiefst. Denn ich denke, dass es oftmals die Erwachsenen selbst, mit ihren eigenen komischen, vorbelasteten Vorstellungen und Handlungen sind, die die Kinder zu dem machen, was wir dann als negativ wahrnehmen und bezeichnen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass diese kleinen Seelen alle nur um Hilfe schreien und uns zeigen, dass es so (hektisch, stressig, unruhig, reizüberflutet, vergiftet…) nicht weiter gehen kann.
Eine freie aktive Schule gleicht mehr einem Kindergarten als einer Schule
Wundervollerweise gibt es mittlerweile doch schon einige Pädagogen, die sich auf den Weg gemacht haben. Es gibt eine Vielzahl von alternativen Lernmodellen bzw. pädagogischen Richtungen. Freie aktive Schulen haben sich gegründet (sogar in meiner kleinen Stadt. Hier der Link zur Unterseeschule). In einer freien aktiven Schule bestimmen die Kinder selbst, was, wann und wie sie lernen. Die Lehrer verstehen sich als Begleiter. Sie leisten Hilfestellung bei Fragen oder besorgen Material, für das jeweilige, momentane Interessengebiet des Kindes und bereiten es so vor, dass das Kind dann damit arbeiten kann. Unzählige Spiele und die unterschiedlichsten Arbeitsmaterialien sind aber bereits vorhanden. Das nennt sich in der Montessori-Pädagogik der vorbereitete Raum. Wer schon einmal in einer freien aktiven Schule zu Besuch war, weiß, dass sie mehr an einen Kindergarten als an eine Schule erinnert. Die Kinder spielen, vertiefen sich in ein Thema. Sie sind selbstwirksam. Ja, sie lernen! Und zwar ganz von alleine.
Auch gibt es sowohl engagierte Einzelpersonen, als auch Gruppierungen, die online zum Thema freies, alternatives Lernen informieren, beraten und helfen. So beispielsweise Lena Busch, mit ihrem Freilern-blog. Oder der Weltenbummler, Coach, Online-Business-Schulen-Gründer und sechsfacher Vater, Ka Sundance, der world-schooling mit seinen Kindern betreibt. Für alle Alternativen, Frei-Denker, Quer-Denker, Rebellen, Krieger des Lichts, Leben-Liebende oder einfach nur Frei-Lern-Interessierte ein absolutes Geschenk.
Gerade die besonders sensiblen Naturen unter uns, so wie ich eine bin, hätten solche „Schulen“
schon damals gebraucht.
Lern-Orte,
- wo sie bewusst wahr- und angenommen werden
- an denen es Rückzugsmöglichkeiten gibt (z.B. eine Art Kuschelecke oder gar ein Apfelbaum im angrenzendem Garten oder ein Weidenhaus
- an denen Menschen mit Herz und Verstand arbeiten, die emphatisch auf die Individualität des ihnen anvertrauten Schützlings eingehen
- die mitten in der Natur liegen, fernab von Straßenlärm und Abgasstaub
- an denen das von Natur aus neugierige Kind selbstwirksam lernen kann
- an denen viel, viel gesungen, musiziert, getanzt, geschauspielert, gemalt, gewerkelt, gespielt und gelacht wird
- die das Kind in seinen Stärken unterstützen
- in denen sich das Kind ausreichend bewegen darf
- des liebevollen, achtsamen Miteinanders
Fühle dich auch herzlich eingeladen, bei mir auf der Webseite weiterzulesen. Dort findest Du weiterführende Web-Adressen.
Alles Liebe und bis bald 🙂
Alexandra Anvari
– Autorin, Künstlerin, Freigeist, Rebellin, Pädagogin und alleinerziehende Mutter einer wundervollen Tochter
Sylvia Harke
Hallo, Du liest hier meinen Blog zum Thema Hochsensibilität. Ich bin Buchautorin, selbst hochsensibel, Coach und Dipl.-Psychologin. Ich arbeite freiberuflich als Seelen-Dolmetscherin und Schriftstellerin. Mit einer selbständigen Tätigkeit verwirkliche ich meinen Traum von einem selbstbestimmten, kreativen Leben. Ich schreibe über Hochsensibilität, Sensitivität, Erfolg, Beziehungen, Talententwicklung, Kreativität, Selbstverwirklichung und Psychologie.
Hier erfährst Du mehr über mich und meinen persönlichen Weg.
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Liebe Alexandra,
dein Beitrag zum Thema Waldorf klingt toll und deine eigene Geschichte kommt mir in Bezug auf mich selbst so bekannt vor – leider!!
Leider haben wir mit unserer Waldorfschule nicht so viel Glück gehabt. Die Klassengröße von 37 – leider besonders ungebremsten – Kindern stellt eine ständige Herausforderung dar und meine Tochter fühlt sich auch dort oft „falsch“, da die Anerkennung und der Rückhalt eines jeden Schülers auch ein ganzes Stück weit mit der Empathie der Lehrerin steigt oder fällt (gerade bei Waldorf!). In unserem Fall ist die Sicht auf das Kind und das Handling der gesamten Klasse leider kontraproduktiv. Meine Enttäuschung ist gerade ganz aktuell recht groß, weshalb ich auch auf der Suche nach Lösungen und Gleichgesinnten im Netz bin…
Liebe Grüße
Caroline