Hochsensibilität ist keine Krankheit
Hast Du erst vor kurzem vom Thema Hochsensibilität erfahren? Vielleicht weißt Du noch nicht genau, wie Du das Phänomen einordnen sollst. Im Gespräch mit Ratsuchenden bin ich häufig mit einer Vielzahl von Fehlannahmen konfrontiert. Immer wieder fällt es Betroffenen und sogar Experten schwer, zwischen einer hochsensiblen Veranlagung oder einer psychischen Erkrankung zu unterscheiden.
Grundsätzlich lässt sich festhalten: Hochsensibilität ist keine Krankheit
Um es Dir leichter zu machen, in dem Wirrwarr von Informationen Klarheit zu finden, fasse ich zunächst die wichtigsten Kernaussagen zur Hochsensibilität zusammen. Ausführlichere Informationen biete ich in meinem Buch „Hochsensibel ist mehr als zart besaitet. Die 100 häufigsten Fragen und Antworten“.
Es gibt vier Hauptmerkmale der Hochsensibilität
1.) Gründliche Informationsverarbeitung
- genaues Denken,
- Neigung zum Philosophieren und tiefgründigem Nachdenken
- Perfektionismus,
- assoziatives,
- kreatives Denken
- eine ausgeprägte Beobachtungsgabe,
- Tiefgründigkeit,
- Gerechtigkeitssinn,
- Wahrnehmung von kleinsten Details und Veränderungen,
- Betrachtung eines Sachverhaltes aus verschiedenen Perspektiven,
- Intuition und der Sinn fürs Übersinnliche
- Sinn für Harmonie in Farben und Formen (Wohnungseinrichtung, Kunst)
- Entscheidungsschwierigkeiten durch langes Abwägen
- Gehemmtheit & Schüchternheit
2.) Tendenz zur Übererregung / Überstimulation des vegetativen Nervensystems
- Schnelle Aktivierung des vegetativen Nervensystems und dazugehöriger Symptome (beschleunigter Herzschlag, nasse Hände…)
- deutliche Reaktionen auf Stimulanzien wie Kaffee, Tee oder Drogen
- Aufregung, Prüfungsängste bei öffentlichen Auftritten
- Aufregung bei Veränderungen (Umzug, Hochzeit usw.)
3.) ein intensives Gefühlsleben
- Positive wie negative Gefühle werden stark empfunden und können leicht ausgelöst werden
- Empathie und Einfühlungsvermögen für Mensch und Tier
- Nah am Wasser gebaut, ein Gefühlsmensch
- emotionale Stimmungen anderer Menschen beeinflussen das eigenen Wohlbefinden
- ein intensives Traumleben, Interesse an Spiritualität und Mystik
- Gefühl von starker Verbundenheit mit dem Leben, der Natur, Tieren und Menschen
4.) Sensorische Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen
- Lärm- und Lichtempfindlichkeit
- Starke Reaktion auf Medikamente
- Unwohlgefühl bei Menschenmassen
- Neigung zu Kontaktallergien
Überstimulation: eine häufig missverstandene Eigenschaft hochsensibler Menschen
Einer der Gründe, warum Hochsensibilität häufig mit Krankheitsbildern, wie z.B. ADHS, Angststörungen oder sogar Depression verwechselt wird, liegt in der Neigung zur Überstimulation. Das vegetative Nervensystem hochsensibler Menschen reagiert schneller auf Umweltreize. Dies gilt insbesondere in reizüberflutenden oder wichtigen Situationen, wie
- Einkaufen in einer Großstadt
- Autofahren auf der Autobahn
- Unterricht in großen, lauten Klassen / Gruppen
- Streit
- Vorstellungsgespräche
- Öffentliche Auftritte
- Jobwechsel
Vegetative Stressreaktionen lösen körperliche Symptome aus, wie zum Beispiel:
- Erweiterung der Pupillen
- Erhöhter Puls, schnellerer Atemrhythmus
- Muskelanspannungen
- Ausschüttung von Stresshormonen
- Ängstlichkeit (z.B. Prüfungsangst)
Hochsensible scheinen eine erhöhe Erregungsbereitschaft im vegetativen Nervensystem zu haben. Trotzdem kann man jedoch nicht einfach von einer Panikstörung sprechen. Je lebenserfahrener Hochsensible werden, umso besser kennensieihre Stärken und Schwächen. Da Reizüberflutung später mit einer verlängerten Erholungsphase ausgeglichen werden muss, lernen Hochsensible, Stressauslöser lieber zu vermeiden. Auch dies ist keine Angstvermeidung, sondern ein Energiesparmodell. Denn es geht nicht um die Überwindung von Ängsten, sondern darum, dass ein hochsensibles Nervensystem mit bestimmten Reizintensitäten überfordert ist.
Ich denke da zum Beispiel an eine Klientin, die kaum mit dem Auto auf der Autobahn oder in einer fremden Großstadt fahren konnte, ohne völlig verschwitzt und gestresst anzukommen. Ihr Mann wollte ihr gut zureden, dass es doch nicht so schlimm sei. Doch für sie war es besser, diese Stresssituationen zu vermeiden. Generell scheint unsere hektische, reizüberflutete Gesellschaft ein Ort zu sein, der für HSPs besonders schwierig zu bewohnen ist. Hochsensible sehnen sich nach Ruhe und ziehen sich gern an den Stadtrand oder aufs Land zurück.
Also, Kopf hoch! Du bist völlig in Ordnung so, wie Du bist!
Vertraue Deiner Wahrnehmung. Es gibt auch positive Aspekte der Hochsensibilität!
Weitere Begriffe, die Hochsensibilität beschreiben:
empfindsam, sensibel, feinfühlig, hellfühlig, zart besaitet, wahrnehmungsbegabt.
- Hochsensibilität ist eine Persönlichkeits-Veranlagung.
- Ein anderes Wort dafür ist „Temperament“.
- Hochsensibilität bestimmt nicht nur das Temperament, sondern auch körperliche Besonderheiten. (z.B. Geräuschempfindlichkeit, Schreckhaftigkeit…)
- Der aktuelle Forschungsstand geht von einem genetisch vererbten Merkmal aus.
- Hochsensibilität kommt bei Menschen und Tieren vor. Ca. 15 – 20% der Bevölkerung sind hochsensibel veranlagt.
- Hochsensibilität ist NICHT gleichzusetzen mit Depression.
Hochsensibilität ist eine Sinnes-Begabung.
Sie befähigt Dich zu einer differenzierten Wahrnehmung Deiner Umwelt.
Hochsensible sind:
- sehr empathisch
- hilfsbereit
- Detail verliebt
- aufmerksam, genau
- häufig kreativ begabt
- gute Beobachter
- Stimmungsbarometer für zwischenmenschliche Beziehungen
- sie haben einen Blick für Harmonie und Schönheit
- einen Hang zu Spiritualität und Philosophie
- sehr naturverbunden
- meist ausgestattet mit dem siebten Sinn.
- Da es sich bei der Hochsensibilität NICHT um eine Krankheit handelt, wird Dir kein Arzt, Psychiater oder Psychotherapeut die Diagnose „hochsensibel“ geben. Diagnosen werden nur für Krankheiten erstellt. Viele Therapeuten sind mit dem Phänomen nicht vertraut und werden möglicherweise abwehrend darauf reagieren. Es bedeutet nicht, dass es Hochsensibilität nicht gibt, sondern dass diese Therapeuten noch keine Fortbildung gemacht haben.
- Hochsensibilität ist NICHT dasselbe wie ADHS oder ADS. Auch wenn es einige Überschneidungen beim den Merkmalen gibt. Die Unterscheidungspunkte findest Du ebenfalls in meinen Büchern: „Hochsensibel- Was tun?“ und „Hochsensibel ist mehr als zart besaitet“.
- Hochsensibilität ist NICHT dasselbe wie Borderline.
- Schreibabys sind nicht automatisch als hochsensibel einzustufen. Oftmals steckt dahinter eine schwere Geburt / eine Bindungsstörung zwischen Mutter und Kind / eine fehlgeleitete Interaktion zwischen Mutter und Kind (besonders in der Stillphase, wenn Mütter bei jeder Regung des Kindes aus dem Bett hochschrecken und die Brust geben, auch wenn das Kind schon satt ist). In diesen Fällen ist dringend die Beratung in einer Schreibaby Ambulanz zu suchen. Eine weitere Ursache für nächtliches Schreiben bei Säuglingen können auch Elektrosmog und Wasseradern sein.
- In ihrem Interview „Hochsensibilität ist keine Krankheit“ mit der Zeitung Die Welt berichtete Dr. Elaine Aron 2015, dass aktuell 50 Universitäten zum Thema Hochsensibilität forschen.
- Die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron gilt als die Begründerin der Forschung zur Hochsensibilität in der Neuzeit. Sie begann 1997 ihr Forschungen an der Universität von Kalifornien, Santa Cruz. Dort entwickelte sie mit Hilfe von Fragebögen, Interview und statistischen Auswertungen die sogenannte „HSP-Skala“.
- Im September 2015 hatte der Dokumentarfilm „Sensitive- The Untold Story“ seine Premiere in den USA. Er wurde mit Hilfe von Crowdfunding von Elaine Aron und einem professionellem Filmteam produziert. Darin werden viele interessante Lebensgeschichten vorgestellt. Sogar die bekannte Sängerin Sheryl Crow spricht in einem Interview über ihre Sensitivität.
- Wir können froh sein, dass Hochsensibilität NICHT als Krankheit klassifiziert wird.
- Möglicherweise ist der Begriff „Hochsensibilität“ eine nicht ganz passende Übersetzung aus dem Englischen. Elaine Aron spricht ja von „highly sensitive persons“, also von hoch sensitiven Personen. Daraus leitet sich die in Europa gängige Abkürzung HSP
- Ich verwende beim Schreiben die Begriffe „Hochsensibilität“ und „Sensitivität“ sowie „Hochsensitivität“ gleichwertig.
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Buchtipp: „Hochsensibel ist mehr als zart besaitet. Die 100 häufigsten Fragen und Antworten“.
Sylvia Harke
Hier erfährst Du mehr über mich und meinen persönlichen Weg.
Danke:)
Etwa vor 5 Jahren erklärte mir als gestandener Mitt-Fünfziger eine mir wildfremde Frau in einem KVHS-Vortrag in Wernigerode, wer, was und wie ich bin: eine „highly sensitive person“…
Diese Erkenntnis mit allen dort gewonnenen Informationen beruhigte mich sehr – nicht mehr der „unendliche Träumer“, „in einer Märchenwelt lebender“, „mimosenhaft reagierender“… bis hin zu „realitätsfremder“ Mensch zu sein, sondern einfach nur mit ganz eigenen, speziellen Fähigkeiten ausgestattteter „normaler“ Mensch zu sein. Nun als Anfangs-Sechziger verstehe ich MICH und viele meiner Entscheidungen und Reaktionen in meinem durchaus abwechslungsreichen Leben als gut und richtig – wenn auch mehr unbewusst und dem sogenannten Bauchgefühl entprungen: sie waren für MICH richtig; nicht immer logisch oder für Außenstehende nicht immer gut und richtig. Nein: für MICH waren sie richtig. Über einen „Anschubser“ von außen bin ich dann beruflich dort gelandet, wo MEIN Platz ist: im bildenden und begleitenden Bereich. Da hätte ich eigentlich von selbst drauf kommen können… – doch meine vielfältigen Interessen hinderten mich daran, eine schlüssige Entscheidung für MICH zu treffen.
Ich bin schon der Meinung, dass wir/ich „highly sensitive persons“ eine besondere Rolle spielen – aber niemals DIE Rolle; auch nicht DIE Lösung für Angelegenheiten/Probleme haben. Nein, aufgrund der gleichzeitigen Wahrnehmung einer Fülle von Gefühlen und Informationen sind wir in der Lage, akzeptable Vorschläge in kürzester Zeit anzubieten – ohne langwierige Studien, Analysen, Auswertungen und, und, und… Oftmals „fühlen“ wir die richtige Richtung, in die es gehen sollte.
Es ist gut zu wissen, dass wir als „highly sensitive persons“ ein Mensch wie jeder andere auch sind – mit speziellen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet, aber ganz „normal“ eben. Und NICHT krank.
Danke für den Beitrag hier.
Lieber Malte,
vielen Dank für Deine authentischen Zeilen. Seit heute gibt es einen tollen Blogbeitrag zum Thema „Hochsensible Männer“ als Interteview mit Oliver Domröse. https://hsp-academy.de/hochsensible-maenner-interview-oliver-domroese/
Schaue doch mal vorbei. Es wird Dich sicher inspirieren.
herzliche Grüße
Sylvia
Durch die Auflistung all der Dinge die eine hsp begleiten können, fühle ich mich jetzt nicht mehr so weltfremd. Es tut gut zu wissen, dass ich nicht die einzige bin.
Durch mein junges Alter,- ich bin unter 20 Jahre alt -, macht mir das alles wahrscheinlich mehr Angst als anderen, da ich bereits seit ich denken kann (ich mich erinnern kann) so bin, und vieles einfach keinen Sinn ergibt. Ich kann anderen ebenso wenig erklären warum ich manche Dinge tue oder lasse, wie ich sie mir erklären kann. Wobei ich jetzt festgestellt habe, dass ich „auf das sich richtig anfühlen“ gehört habe, welches ich anderen aber schlecht erklären kann.
Ich könnte noch so viel mehr schreiben, doch dafür reicht mein „Budget“ heute nicht, deshalb ersteinmal danke. Vielleicht werde ich mich irgendwann weiter hiermit auseinandersetzen.
Hallo, ich bin auf der Suche nach einer Lektüre für meinen Mann. Ich selber bin eine HSP, er das Gegenteil. Wir sind seit 7 Jahren ein Paar, seit einem Jahr verheiratet – es krieselt weil es mir an Spontanität und Gelassenheit fehlt. Er ist ein liebevoller Mann und Vater (nicht meiner Kinder -aber natürlich meiner Stiefkinder … …), der nicht versteht, wieso ich manchmal an die Decke gehe, wieso ich nicht mal 5 gerade sein lassen kann, wieso ich für alles einen Plan brauche, wieso ich mich so anstelle, wenn z. B. ein Bericht über Masseniterhaltung im TV kommt. Ich habe versucht es ihm in Ruhe zu erklären, er hört mir zu, aber ganz ehrlich ? – Wie soll er das verinnerlichen. Man(n) kann das akzeptieren, aber eben nicht nachempfinden und dann bin ich doch wieder die Mimose. Ich glaube aber, das es sehr gut für uns alle wäre, wenn ich es nur irgendwie schaffen könnte ihm meine Welt zu projizieren. Es muss doch mehr Menschen geben, die genau dieses Problem haben. Hat dazu jemand eine Idee oder Erfahrungen ? Ich würde mich sehr, sehr darüber freuen … Sylke.